Am 25. und 26. Juni 2025 fand in Berlin das dritte Optionszeitenlabor der Bundesstiftung Gleichstellung in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) statt. Im Mittelpunkt stand das Thema zivilgesellschaftliches Engagement, als eine dritte gleichstellungspolitisch relevante Zeitsphäre neben Erwerbs- und Sorgearbeit. Ziel war es, Freistellungszeiten für ehrenamtliche Tätigkeiten strukturell, intersektional und demokratiepolitisch weiterzudenken.
Dr. Karin Jurczyk und Prof. Ulrich Mückenberger (DGfZP) führten in das Thema ein. Prof. Claudia Vogel (Hochschule Neubrandenburg) präsentierte empirische Daten zur sozialen Verteilung von Engagement. Sie zeigte auf, dass Zugang zu Engagement nach Bildungsstatus, Herkunft und Erwerbsstatus ungleich verteilt ist – und, wenn auch auf den ersten Blick nicht sichtbar, nach Geschlecht. Eine horizontale Segregation herrscht sehr wohl: So sind Frauen z.B. deutlich seltener in einflussreichen Vorstandsposten engagagiert. Zudem wurde deutlich, dass sich im zivilgesellschaftlichen Engagement ähnliche Ungleichheitsstrukturen zeigen wie auf dem Arbeitsmarkt. Frauen übernehmen überdurchschnittlich häufig sorgende und organisatorische Aufgaben, während Entscheidungs- und Leitungsfunktionen weiterhin mehrheitlich männlich besetzt sind. Dieses Muster einer „gläsernen Decke“ findet sich im Ehrenamt ebenso wie in der Erwerbsarbeit. Daraus ergibt sich die Frage, ob und wie bewährte Gleichstellungsinstrumente auch im freiwilligen Engagement Anwendung finden können. Das Optionszeitenmodell (OZM)eröffnet neue Möglichkeiten, diese Ausschlüsse zu adressieren.
Ein zentraler Impuls kam von Dr. Delal Atmaca, Geschäftsführerin und Mitbegründerin des Dachverbandes der Migrantinnenorganisationen (DaMigra e.V.) und Mitglied im Stiftungsbeirat. Sie thematisierte die strukturellen Ausschlüsse migrantischer Frauen im zivilgesellschaftlichen Engagement. Obwohl sich Migrantinnen in vielfältigen Formen engagieren, etwa in Community-Arbeit oder politischer Selbstorganisation, bleibt dieses Engagement häufig unsichtbar, unterfinanziert und rechtlich nicht abgesichert. Sie machte deutlich, dass Engagement für migrierte und geflüchtete Frauen mit besonderen Hürden verbunden ist. Diese Frauen leben in prekären Verhältnissen, engagieren sich aber dennoch. Gleichzeitig stehen sie in einem ständigen Spannungsfeld: Sie sind von Rassismus und Sexismus gleichermaßen betroffen, kämpfen um Räume, in denen sie gehört und respektiert werden. In manchen Kontexten ziehen sie sich aus Engagement zurück, um dem Rechtfertigungsdruck zu entgehen, was wiederum Allianzen und öffentliche Sichtbarkeit erschwert.
Dr. Atmaca forderte daher eine diskriminierungssensible Weiterentwicklung des OZM. Dieses müsse die spezifischen Ausschlüsse migrantischer Frauen explizit adressieren und reale Teilhabe ermöglichen. Das OZM könne zur Verbesserung der Bedingungen beitragen, etwa indem es Freistellungszeiten für Engagement schafft, die finanziellen und zeitlichen Druck mindern. Bereits 2023 hatte sich eine Sondersitzung im Rahmen der Entwicklung des Engagementberichts mit diesen Themen befasst. Die Erkenntnisse daraus sollten für die Weiterentwicklung des Modells genutzt werden.
Hier zeigen sich Synergien mit einem weiteren Projekt der Bundesstiftung Gleichstellung, in dem das Aufenthaltsrecht systematisch auf seine gleichstellungspolitischen Wirkungen untersucht wurde. Beispielsweise müssten zeitweise situative Lohnfortzahlungen für Optionszeiten zugunsten zivilgesellschaftlichen Engagements so existenzsichernd ausgestaltet sein, dass dadurch der Aufenthaltsstatus bestimmter drittstaatsangehöriger Frauen nicht gefährdet wird. Diese Perspektive unterstreicht, wie sich Gleichstellungs-, Migrations- und Zeitpolitik gegenseitig befruchten können, mit großem Potenzial für eine weiterführende konzeptionelle und politische Debatte.
Kirsten Hasenpusch, stellvertretende Geschäftsführerin des FC Bayern München e.V. und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Sportjugend (dsj) brachte in ihrem Beitrag die Perspektive des organisierten Sports ein. Der FC Bayern München ist mit rund 400.000 Mitgliedern einer der größten Sportvereine Deutschlands. Der Verein ist stark männlich geprägt, sowohl strukturell als auch in den Führungspositionen. In der Deutschen Sportjugend selbst, die etwa zehn Millionen junge Menschen vertritt, darunter rund acht Millionen Engagierte im Sport und zwei Millionen Menschen in Funktionen, zeigt sich ebenfalls ein deutliches Ungleichgewicht: 63 % der Engagierten und 67 % der Vorstandsmitglieder sind männlich. Während an der Basis viele Frauen aktiv sind, steigt der Männeranteil mit zunehmender Lizenzstufe deutlich an.
Hasenpusch verwies darauf, dass die männliche Dominanz im organisierten Sport eine Einstiegshürde für viele Frauen darstellt. Sie selbst habe durch sportliche Leistung Anerkennung erfahren und sich so in Führungspositionen etablieren können. Diese Position nutze sie heute, um andere ehrenamtlich Engagierte für bestehende Geschlechterungleichheiten zu sensibilisieren. Ihr Ziel: ein Umfeld zu schaffen, das Hürden abbaut und Teilhabe erleichtert.
Im Profisport sei es nach wie vor selten, dass Männerteams von Frauen trainiert werden, und wenn doch, werde dies kontrovers diskutiert. Frühzeitige Interventionen wie Mädchen-Sport-Camps oder gezielte Förderprojekte wie „Mädchen an den Ball“ sollen langfristig für mehr Chancengleichheit sorgen. Wenn junge Mädchen früh positive Erfahrungen im Sport machen, könne sich dies positiv auf spätere Engagementformen bis hin zur Vorstandsarbeit auswirken.
Astrid Siemes-Knoblich, Bürgermeisterin a.D., Beraterin und Gründerin von „Go! female“, brachte die Perspektive der Kommunalpolitik in die Diskussion ein. Sie betonte, dass Diversität im zivilgesellschaftlichen Engagement auf kommunaler Ebene dringend notwendig sei, insbesondere in Bezug auf Geschlecht und Alter. Frauen sind in kommunalen Parlamenten nach wie vor deutlich unterrepräsentiert, ihr Anteil liegt bei lediglich 20 bis 25 %. Auch junge Menschen beteiligen sich nur selten aktiv an kommunalpolitischen Prozessen. Somit fehlt es an gleichberechtigter Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen, und damit an einer vollständigen demokratischen Repräsentation auf lokaler Ebene.
Siemes-Knoblich unterschied verschiedene Formen kommunalpolitischen zivilgesellschaftlichen Engagements, in denen unterschiedliche Herausforderungen sichtbar werden. In der politischen Gremienarbeit etwa steigen die Anforderungen an Mandatsträger*innen kontinuierlich und es fehlt an geschlechter- und altersdivers zusammengesetzten Gremien. Das OZM könne mehr und diverseren Menschen zum Beispiel durch zeitliche Freistellungen überhaupt erst die Möglichkeit geben, sich politisch zu engagieren.
Sie benennt zudem die situative individuelle Beteiligung, etwa im Rahmen kommunaler Bürger*innenbeteiligungsverfahren. Ziel ist es, das Erfahrungswissen möglichst vieler Menschen einzubeziehen. Umso wichtiger sei es, dass weibliche Stimmen präsent sind.
Insgesamt lautete Siemes-Knoblichs Einschätzung zur Frage, ob das OZM zu mehr Geschlechtergerechtigkeit im kommunalpolitischen Engagement beitragen kann: Jein. Zwar seien rechtliche und strukturelle Rahmenbedingungen zentral, doch es brauche ebenso Aufklärung, Sichtbarkeit und eine langfristige Strategie zur Überwindung bestehender Barrieren. Hier könne das OZM wichtige Impulse setzen, um die tief verankerte Geschlechtersegregation in kommunalpolitischen Beteiligungsformen perspektivisch aufzubrechen.
Auch das zivilgesellschaftliche Engagement älterer Frauen wurde thematisiert. Dr. Elisabeth Redler von „Omas gegen Rechts” in München schilderte eindrucksvoll die politische Motivation und Praxis der Initiative. „Politik ist eine zu wichtige Angelegenheit, als dass wir sie alten Männern überlassen dürfen”: Mit diesem Leitspruch sprechen die Omas vor allem Menschen jenseits der Erwerbsphase an. Ihr Engagement reicht von Demonstrationen über organisatorische Aufgaben bis hin zur IT und Kommunikation innerhalb der Regionalgruppen. Motiviert durch Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und nachfolgenden Generationen, engagieren sich viele ältere Frauen trotz finanzieller Unsicherheit, familiärer Verpflichtungen oder gesundheitlicher Einschränkungen aktiv. Das Engagement erfolgt ohne Bezahlung, ist aber hochpolitisch und öffentlich sichtbar. Interessant ist die Struktur: In München handelt es sich um eine basisdemokratische Organisation ohne Vereinsstatus, mit rein weiblicher Debattenkultur. Frauen erfahren hier eine Form politischer Sichtbarkeit, die ihnen gesellschaftlich oft nicht zugeschrieben wird. Gleichzeitig stehen sie im Spannungsfeld zwischen öffentlichem Engagement und sorgender Familienrolle. Das OZM könnte auch hier zur Anerkennung und Absicherung beitragen, indem es die politische Teilhabe älterer Frauen systematisch fördert und strukturelle Hürden abbaut.
Auch Vertreterinnen aus dem Bereich Kirche und Wohlfahrt betonten die hohe Relevanz ehrenamtlicher Mitwirkung, insbesondere von Frauen. Dr. Kathrin Wahnschaffe-Waldhoff, sozialwissenschaftliche Studienleiterin im Studienzentrum der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) für Genderfragen, verdeutlichte die zentrale Rolle des Ehrenamts in der evangelischen Kirche. Sie stellte den Gleichstellungsatlas der EKD vor. 2022 engagierten sich rund 900.000 Personen ehrenamtlich, davon etwa 69 % Frauen. Frauen sind in allen Gliedkirchen stark überrepräsentiert, insbesondere in der Gestaltung von Kindergottesdiensten, wohingegen sie in Sichtbarkeits- und Leitungspositionen weiterhin unterrepräsentiert bleiben. Einzige Ausnahme bildet die Predigthilfe. Trotz ihrer tragenden Rolle auf allen Ebenen, als Mitglieder, Mitarbeitende und Ehrenamtliche, sind Frauen in entscheidenden Gremien weiterhin in der Minderheit. Der Mitgliederschwund führt dazu, dass es weniger hauptamtliche Stellen gibt und das Ehrenamt weiter an Bedeutung gewinnt. Auch hier könnte das OZM ansetzen: Es bietet strukturelle Unterstützung für jene, die sich in Sorge- und Gemeindearbeit einbringen, aber bislang keine politische oder institutionelle Anerkennung erfahren. Eine systematische Aufwertung dieser Tätigkeiten könnte sowohl die Teilhabechancen von Frauen stärken als auch das zivilgesellschaftliche Engagement insgesamt demokratisch absichern.
Ein weiterer Schwerpunkt des Labors war die kritische Auseinandersetzung mit der politischen Funktion von Engagement. Vor dem Hintergrund zunehmender autoritärer, antifeministischer und demokratiefeindlicher Bewegungen betonten die Teilnehmenden, dass zwischen demokratiestärkendem und verfassungsfeindlichem Engagement klar unterschieden werden muss. Demokratiestärkende Initiativen müssen gezielt gefördert und vor „shrinking spaces“ geschützt werden, während verfassungsfeindliche Bestrebungen konsequent zu benennen sind. Die Engagementstrategie der Bundesregierung betont daher die „Ermöglichung und Unterstützung von an den Werten der Verfassung ausgerichtetem freiwilligen Engagement“.
Ein weiterer inhaltlicher Höhepunkt war der abendliche Impuls von Hanna Völkle (EAF Berlin) zur Caring Democracy, basierend auf der Demokratietheorie von Joan Tronto. In einer sorgenden Demokratie wird Fürsorge demnach nicht als private Aufgabe verstanden, sondern als demokratische Infrastruktur.
Am zweiten Tag diskutierten Daniela Broda (DBJR) und Nadine Haegeli (DRK) mit Hanna Völkle über bestehende Freistellungspraxen. In der abschließenden Diskussion betonten Dr. Karin Jurczyk und Prof. Dr. Ulrich Mückenberger, dass das Optionszeitenmodell dazu beitragen kann, Engagementzeiten gerecht, inklusiv und demokratiefördernd zu gestalten, durch klare rechtliche Strukturen, finanzielle Absicherung und gezielte politische Steuerung.
Mit dem dritten Optionszeitenlabor schloss sich zugleich ein inhaltlicher Kreis: Während die ersten beiden Labore im Oktober 2023 und April 2024 auf das erste Fokusthema der Bundesstiftung Gleichstellung, „Erwerbs-/Sorgemodell & Vereinbarkeit“, fokussierten, wurde nun die Relevanz des Modells für das vierte Fokusthema „Demokratie & Geschlechterbilder“ deutlich. Das Labor zeigte: Zeitpolitik ist ein zentrales Instrument zur Stärkung demokratischer Teilhabe und Resilienz, insbesondere in Zeiten wachsender Polarisierung und Antifeminismus.
Wie die Bundesstiftung Gleichstellung auch zukünftig zum Thema lebenslauforientierte Zeitpolitik arbeiten und damit die Forderungen aus dem zweiten Gleichstellungsbericht umsetzen wird, darüber informiert sie in ihrem Arbeitsprogramm 2026.