Zeitpolitik

Auf einen Blick

Trotz steigendem Wohlstand leiden viele Menschen zunehmend unter Zeitarmut und Stress. Gerade für Sorgetätigkeiten fehlt die Zeit. Zeitpolitische Reformvorschläge, wie die Verkürzung der Arbeitszeit, eine Familienarbeitszeit oder das Optionszeitenmodell, wollen Abhilfe schaffen. Auch andere Maßnahmen, wie ein Gutschein-Modell für Privathaushalte, stellen eine zeitpolitische Innovation dar. Wir stellen die wichtigsten Ansätze vor und zeigen auf, warum das Thema für Gleichstellung wichtig ist.

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von Leoni Linek

 

1. Zeitpolitik – ein gleichstellungspolitisches Thema

Obwohl der materielle Wohlstand in den Industrienationen in den letzten hundert Jahren durchschnittlich gestiegen ist, scheinen die meisten Menschen immer weniger freie Zeit zu haben. Mehr als die Hälfte der 18- bis 55-Jährigen in Deutschland fühlt sich oft – oder sogar sehr oft – gehetzt und gibt an, unter Zeitdruck zu leiden (Statista 2016). An vielen Arbeitsplätzen kommt es zu einer verstärkten Beschleunigung und Arbeitsverdichtung (Storm et al. 2023). Psychische Belastungserscheinungen wie Burnout-Erkrankungen haben dadurch in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen (Meyer et al. 2023).

Besonders knapp ist die Zeit für Sorgetätigkeiten – für Hausarbeit, Kinderbetreuung oder Pflege, für Freund*innen, Partner*innen oder Familie, sowie für sich selbst. Dabei ist Sorgearbeit eine zentrale Voraussetzung für das individuelle Wohlergehen und die gesellschaftliche Reproduktion. Erwerbstätige Eltern und Alleinerziehende leiden besonders stark unter Zeitnot (Jurczyk 2009), wobei Mütter häufiger Zeitdruck empfinden als Väter (Klünder/Meier-Gräwe 2017). Die meisten Menschen wünschen sich mehr Zeit für kulturelle Aktivitäten, Sport, Freizeit und soziale Kontakte. Nur wenige Menschen wünschen sich mehr Zeit für Erwerbstätigkeit – darunter vor allem Frauen in Teilzeitbeschäftigung. (Liersch 2017)

Zeitarmut ist vergeschlechtlicht: Sie betrifft vor allem Frauen. Im Jahr 2022 leisteten Frauen im Schnitt pro Tag 1 Stunde und 19 Minuten mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer. Dadurch ergibt sich ein Gender Care-Gap von circa 44,3% (Statistisches Bundesamt 2024). Bei der vorausgegangenen Zeitverwendungserhebung (ZVE) im Jahr 2012/2013 hatte der Gender Care Gap bei 52,4% gelegen. Die Ungleichverteilung der Sorgearbeit ist also nur leicht zurückgegangen.[1] Frauen unterbrechen ihre Erwerbsarbeit und verkürzen ihre Arbeitszeit öfter und länger als Männer, z.B. um Kinder zu betreuen oder Angehörige zu pflegen (Panova et al. 2017). Solche Unterbrechungen und Verkürzungen der Arbeitszeit werden in der Regel „bestraft“: Sie haben ein geringeres Gehalt, schlechtere Karrierechancen und eine schwächere soziale Absicherung zur Folge (Statistisches Bundesamt 2023a, 2023b). Das männlich geprägte Modell eines dreigeteilten Lebenslaufs – aus Bildung, Beruf und Rente – bildet weiterhin die gesellschaftlich dominante Norm, was Frauen systematisch schlechter stellt (sowie allgemein Menschen, die Sorgearbeit leisten).

Zahlreiche Initiativen und Reformvorschläge adressieren diese Probleme unter dem Stichwort der „Zeitpolitik“. Sie setzen sich dafür ein, dass Menschen mehr Zeit haben für Sorgetätigkeiten, Weiterbildung, kulturelle Aktivitäten oder politische Teilhabe. Bereits 2017 plädierte die Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung für eine Abkehr vom „Normalarbeitsverhältnis“ hin zu einem „Erwerbs-Sorge-Modell“ (Bundesregierung 2017: 57; 101 ff.). Ein solches Modell soll es allen Menschen, unabhängig vom Geschlecht, ermöglichen, Erwerbsarbeit, private Sorgetätigkeiten und andere gesellschaftlich notwendige Aktivitäten unter einen Hut zu bekommen (ebd.: 13 f.).

Doch was ist mit dem Begriff der Zeitpolitik gemeint? Überall im Alltag stellen wir fest, dass unser Leben einem zeitlichen Regime unterworfen ist, das wir nicht selbst erschaffen haben: Von den gesetzlichen Feiertagen über die Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel bis zum Beginn und Ende eines Schul- oder Arbeitstages – sie alle sind das Produkt früherer Entscheidungen politischer und wirtschaftlicher Akteure. Zeitpolitik an sich ist also keinesfalls neu. Es fehlte bisher lediglich ein passender Begriff, um zu beschreiben, wie die Zeit der Einzelnen durch zentrale gesellschaftliche Institutionen, wie Staat oder Arbeit, geprägt ist – und welche Implikationen das wiederum für die Sozialstruktur hat (Rinderspacher 2015). Der Begriff der Zeitpolitik soll dieses Vakuum füllen. Zeit kann dabei gleichermaßen „Gestaltungsgegenstand“ oder „Gestaltungsinstrument“ sein: Mit politischen Maßnahmen wird beeinflusst, wann und wofür Menschen Zeit haben – und über die vorherrschende Zeitstruktur lassen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern. Das sind die zwei Seiten der zeitpolitischen Medaille (ebd.).

 

2. Zeitpolitische Ansätze zur Umverteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit

Im Folgenden werden zentrale zeitpolitische Reformvorschläge und Aspekte aktueller zeitpolitischer Debatten aus Gleichstellungsperspektive vorgestellt. Die meisten Reformvorschläge zielen darauf ab, mehr frei verfügbare Zeit jenseits der Erwerbsarbeit zu schaffen. Sie setzen dafür in verschiedenen Bereichen an, etwa in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, in der Frauen- und Familienpolitik oder auf Ebene des Betriebs. Aus Gleichstellungsperspektive ist dabei besonders relevant, ob diese Ansätze dazu beitragen können, mehr Zeit für Care zu schaffen bzw. Erwerbs- und Sorgearbeit umzuverteilen und in der Konsequenz geschlechtsbezogene Lohnunterschiede zu reduzieren und die eigenständige Existenz- und Alterssicherung von Frauen zu stärken.

a. Arbeitszeitverkürzungen

Der wohl älteste Ansatz zur Schaffung von mehr freier Zeit für alle Menschen ist die lineare Verkürzung der Arbeitszeit. Forderungen nach Arbeitszeitverkürzungen haben eine lange Geschichte, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht, als Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen in Europa und Nordamerika für die Begrenzung der Arbeitszeit auf acht Stunden pro Tag kämpften (Schneider 1984). Angesichts steigender Arbeitslosigkeit geriet die Forderung nach einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung in den 1970er und 80er Jahren erneut in den Fokus vieler Gewerkschaften. So forderte die IG Metall 1977 erstmalig die 35-Stunden-Woche und konnte sie 1995 für Beschäftigte der Metallbranche durchsetzen.

Auch aktuell unterstützen viele Menschen und zahlreiche Verbände die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten. So forderten 2015 der Deutsche Frauenrat und das Bundesforum Männereine Reduzierung der Vollzeit-Arbeitszeit auf 30 Stunden pro Woche (Deutscher Frauenrat und Bundesforum Männer 2015).[2] Laut Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) wünscht sich die bundesdeutsche Bevölkerung kürzere Arbeitszeiten: 2020 war die Wunsch-Arbeitszeit der Deutschen mit 32,8 Stunden pro Woche so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erhebung (Bernau 2021). Grundsätzlich ist bekannt, dass Frauen in Teilzeitbeschäftigung tendenziell gerne länger arbeiten würden, um ein höheres Einkommen zu erzielen, während Männer mit langen Arbeitszeiten ihre Arbeitszeit oftmals verkürzen möchten (Schmidt et al. 2020). Die Wunscharbeitszeit ist jedoch bei Männern wie bei Frauen in den letzten Jahren zurück gegangen (Bernau 2021).

Dass Arbeitszeitverkürzungen auch für Arbeitgeber von Vorteil sein könnten, hat zuletzt eine britische Studie verdeutlicht: Im Rahmen eines Pilotprojekts zahlten 61 Firmen ihren Mitarbeiter*innen ein halbes Jahr lang volles Gehalt bei vier Arbeitstagen; in dieser Zeit stieg der Umsatz der Unternehmen um 1,4 Prozent und die Zahl der Krankheitstage ging um 65 Prozent zurück. Die Mehrheit der beteiligten Firmen (56 von 61) wollen die Vier-Tage-Woche auch dauerhaft einführen. (Lewis et al. 2023).

Aus gleichstellungspolitischer Perspektive würde eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung zunächst mehr freie Zeit schaffen. Allerdings ist unklar, wie die zusätzliche Zeit genutzt und die Sorgearbeit verteilt werden würde. Manche befürchten, dass nur diejenigen Paare und Familien, die ohnehin egalitär eingestellt sind, ihre Arbeit gleichmäßiger untereinander aufteilen würden. Deshalb plädieren andere Modelle für stärkere Anreize für eine geschlechtergerechte Arbeitsteilung. Außerdem fällt Sorgearbeit an allen Tagen der Woche an, nicht nur von Freitag bis Sonntag. Eine gleichmäßige Arbeitszeitverkürzung an allen Arbeitstagen ist daher gerade für Frauen, die einen Großteil der Sorgearbeit leisten, oftmals realistischer und entlastender als eine 4-Tage-Woche (Völkle 2024).

b. Familienarbeitszeit und Elterngeld Plus / Bonus

Ein alternativer Vorschlag, wie mehr Zeit für Eltern kleiner Kinder geschaffen werden kann, ist die 2013 von Prof. Katharina Wrohlich und Dr. Kai-Uwe Müller entwickelte „Familienarbeitszeit“. Kurz zuvor hatte der Achte Familienbericht der Bundesregierung verdeutlicht, dass es Familien in Deutschland an Zeit fehlt, um Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012). Zwar sollte das 2007 eingeführte Elterngeld mit den sogenannten „Partnermonaten“ eine egalitärere Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit ermöglichen, als bis dahin üblich. Doch fehlten weiterhin familienpolitische Leistungen für die Zeit nach den ersten 14 Lebensmonaten eines Kindes. Das Zukunftsforum Familie und die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) diskutierten daher im Anschluss an den Bericht verschiedene zeitpolitische Modelle mit Expert*innen. Das Modell einer reduzierten Vollzeit schien erfolgsversprechend, da die Geburt eines Kindes als wichtiges Moment der Retraditionalisierung von Geschlechterrollen gilt (Müller et al. 2013b).

Im ursprünglichen Modellentwurf sollten Familien mit Kindern unter sechs Jahren eine Lohnersatzleistung erhalten, wenn beide Eltern ihre Erwerbstätigkeit auf etwa 80% (32 Stunden pro Woche) reduzieren (Müller et al. 2013a). Spätere Erweiterungen des Modells sahen einen flexiblen Stundenkorridor von 28-32 Stunden pro Woche sowie eine Pauschalleistung vor, um den Verwaltungsaufwand und die Kosten zu reduzieren (Müller et al. 2015). Grundsätzlich sollte dies die Erwerbsbeteiligung von Müttern erhöhen und die Familienzeit von Vätern fördern – im Sinne einer egalitären Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit.

In Folgejahren wurde das Modell politisch aufgegriffen und in Form eines Gesetzesentwurfs weiterentwickelt. Auch wenn das Modell nicht in seiner ursprünglichen Form umgesetzt wurde, gestattet inzwischen das 2015 eingeführte Elterngeld Plus vier zusätzliche Monate als Partnerschaftsbonus, wenn beide Eltern gleichzeitig 24-32 Stunden in Teilzeit arbeiten, um mehr Zeit für ihr Kind zu haben.

Im Vergleich zur linearen Arbeitszeitverkürzung setzen Familienarbeitszeit und Elterngeld Plus / Bonus klare Anreize für eine geschlechtergerechte Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Schließlich müssen beide Eltern ihre Erwerbsarbeit reduzieren, um die Lohnersatzleistung zu erhalten. Dies könnte die Erwerbsbeteiligung von Müttern erhöhen und die Familienzeit von Vätern stärken. Offen bleibt, inwiefern solche Modelle flächendeckend zu einer gleichmäßigeren Verteilung von Sorgearbeit führen können oder ob sie primär von egalitär eingestellten Familien genutzt werden. Um den Gender Care Gap weiter zu verringern, fordern viele gleichstellungspolitische Akteure deshalb zusätzliche Maßnahmen, wie etwa eine Ausweitung der nicht übertragbaren Elterngeldmonate und die Einführung der Familienstartzeit. Diese Anreize könnten dazu beitragen, dass Männer sich stärker an der Haus- und Familienarbeit beteiligen. Weiterhin ist zu bedenken, dass Einkommenseinbußen durch reduzierte Arbeitszeiten besonders für Geringverdienende und Alleinerziehende eine Herausforderung darstellen.

c. Gutscheine für haushaltsnahe Dienstleistungen

Ein weiterer Vorschlag, um Familien und ältere Menschen zu entlasten, ist die Einführung eines Gutscheinsystems für haushaltsnahe Dienstleistungen. Bereits die Sachverständigenkommissionen für den Ersten und Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung stellen fest, dass haushaltsnahe Dienstleistungen ein wichtiges Instrument zur Alltagsbewältigung für Familien und ältere Menschen darstellen (Bundesregierung 2011: 8, 2017: 172ff.). Über die Auslagerung von Haushaltsaufgaben könne eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleistet werden, was oft zu verbesserten Einkommens- und Jobperspektiven für Frauen, z.B. bei beruflichem Wiedereinstieg, führt (Bundesregierung 2017: 173 f.). Die gezielte Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen mittels Gutscheinen soll darüber hinaus sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze und eine professionalisierte, existenzsichernde Beschäftigung für Arbeitnehmer*innen im Dienstleistungssektor schaffen (Meier-Gräwe 2015).

In einigen Ländern gibt es bereits ein solches Gutscheinsystem für haushaltsnahe Dienstleistungen. Ein Beispiel ist Belgien, wo seit 2004 ein Gutscheinsystem existiert und als wichtige Maßnahme zur Unterstützung von Familien gilt. In Belgien können Haushalte bis zu 500 Gutscheine pro Jahr erwerben, die sie für eine Reihe von Dienstleistungen wie Reinigung, Wäscherei, Gartenarbeit oder Kinderbetreuung einlösen können. Der belgische Staat trägt einen Teil der Kosten (Heimeshoff/Schwenken 2013). In Deutschland gab es bereits Modellprojekte, die ein solches Gutscheinsystem erprobt haben: Zwischen 2017 und 2019 konnten Personen mit Kindern unter 18 Jahren und/oder pflegebedürften Angehörigen in Aalen und Heilbronn bis zu 20 Gutscheine für haushaltsnahe Dienstleistungen pro Monat erwerben (Nisic/Molitor 2022). Auch im aktuellen Koalitionsvertrag ist die Idee eines Gutscheinsystems für haushaltsnahe Dienstleistungen verankert (SPD – Sozialdemokratische Partei Deutschlands et al. 2021). Dabei sollen Zulagen und bestehende steuerliche Förderungen verrechnet werden und zunächst vor allem Alleinerziehende, Familien mit Kindern und zu pflegenden Angehörigen unterstützt werden, ehe das Modell schrittweise auf alle Haushalte ausgeweitet wird. Umgesetzt ist das Vorhaben allerdings noch nicht.

Aus gleichstellungspolitischer Perspektive bietet ein Gutscheinsystem für haushaltsnahe Dienstleistungen Chancen zur Entlastung von Familien sowie zur Schaffung sicherer Arbeitsplätze in privaten Haushalten. Kritisiert wird, dass vor allem gutverdienende Haushalte sich die Auslagerung ihrer Care-Arbeit leisten können und die ausgelagerten Arbeiten vor allem von prekären Frauen ausgeführt werden. Viele von ihnen migrieren hierfür, was als sogenannte „Care Chains“ bezeichnet wird: Oft verlassen sie ihre eigenen Familien, um in wohlhabenderen Ländern Care-Arbeit in Privathaushalten zu leisten, während ihre eigene Care-Arbeit zu Hause von anderen, oft noch ärmeren Frauen, übernommen werden muss​. Ein Gutschein-System würde diese Arbeitsteilung zwar nicht aufbrechen, aber zumindest die Arbeit in privaten Haushalten besser absichern. Eine gleichstellungspolitisch orientierte Umsetzung müsste darüber hinaus sicherstellen, dass auch Geringverdienende von solchen Entlastungen profitieren und dass die Arbeitsbedingungen der Dienstleistenden möglichst gut gestaltet werden.

d. Optionszeiten

Einer der umfassendsten zeitpolitischen Reformvorschläge ist das sogenannte „Optionszeiten-Modell“ (OZM), das 2015 von Dr. Karin Jurczyk und Prof. Ulrich Mückenberger von der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) entwickelt wurde. Das OZM zielt darauf ab, „atmende Lebensläufe“ für alle Menschen zu ermöglichen: Statt einer Dreiteilung des Lebenslaufs sollen Unterbrechungen und Reduzierungen der Erwerbsarbeit im gesamten Lebensverlauf – auch mehrfach – möglich sein (siehe Grafik). Alle Menschen sollen im Lebensverlauf ein Zeitbudget von circa neun Jahren erhalten, um ihre Erwerbsarbeit zugunsten anderer gesellschaftlich relevanter Tätigkeiten zu unterbrechen oder zu reduzieren.

 

Abbildung 1: Das Optionszeitenmodell. Quelle: Jurczyk, Karin/Mückenberger, Ulrich (Hg.) (2020); eigene Darstellung

Im Fokus des Modells steht die Sorge für sich und andere. Das OZM sieht deshalb eine Zweckbindung vor: Die sogenannte „Entnahme“ freier Zeit aus dem eigenen 9-Jahres-Budget soll für Pflege, Ehrenamt und Kinderbetreuung (zusammengefasst als „Care“, insges. 6 Jahre), Selbstsorge (1 Jahr) und Weiterbildung (2 Jahre) möglich sein. Bisherige Regelungen wie Elterngeld/ Elterngeld Plus, Brückenteilzeit oder Bildungsurlaub sollen ersetzt und in ein Modell aus einem Guss überführt werden. Auch für die Finanzierung haben die Wissenschaftler*innen eine Idee entwickelt. Care-Tätigkeiten sollen durch Lohnersatzleistungen aus öffentlichen Mitteln und Steuern finanziert werden, die Weiterbildungszeiten durch einen Unternehmenspool oder die Agentur für Arbeit und die Selbstfürsorgezeiten durch Eigenfinanzierung oder ein situatives Grundeinkommen. Grundsätzlich sollen diejenigen Stellen die Kosten tragen, die am meisten von der Entnahme freier Zeit profitieren. (Jurczyk/Mückenberger 2020)

Zuletzt hat das OZM positive Unterstützung von der 32. Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenminister*innen der Länder (GFMK) bekommen: Im Beschluss vom Juli 2022 betonte die GFMK die Bedeutung einer aktiven Zeitpolitik für die Gleichstellung der Geschlechter und bat die Bundesregierung, das OZM mit relevanten Akteur*innen zu diskutieren und auf seine Machbarkeit hin zu überprüfen. An diese Empfehlung sowie die Befunde des zweiten Gleichstellungsberichts knüpft die Bundesstiftung Gleichstellung mit dem Projekt von 2023-2025 laufenden „Optionszeitenlabor“ an.

Kontrovers diskutiert wird dabei u.a., wie das OZM gestaltet werden muss, damit bestehende Ungleichheits-, Flexibilisierungs- und Prekarisierungsdynamiken ausgeglichen statt verschärft werden. Aus gleichstellungspolitischer Perspektive bietet das Optionszeitenmodell zwar Anreize für eine geschlechtergerechte Entnahme von Optionszeiten, da das Zeitkontingent zweck- und personengebunden ist und nicht zwischen Eltern übertragen werden kann. Dennoch besteht auch hier die Sorge, dass es vor allem Frauen sind, die die Freistellungsoptionen für Kinderbetreuung und Pflege nutzen. Eine dynamische Anpassung der Ziehungsrechte für Alleinerziehende und Mehr-Kind-Familien ist im Modellentwurf vorgesehen, muss aber aus einer zeitpolitischen Perspektive konkretisiert werden. Offene Fragen gibt es auch z.B. in Hinblick auf kapazitätsorientiertes Arbeiten (Arbeit auf Abruf), da hier die Arbeitszeit stark variieren kann (Bringmann 2022). Unter anderem in diesem Kontext haben Gewerkschaftsvertreter*innen sich für ein Recht auf Vollzeit bzw. ein Rückkehrrecht in Vollzeit stark gemacht, wie es in manchen Tarifverträgen bereits realisiert ist.

e. Wahlarbeitszeiten und Wahlarbeitszeitgesetz

Das Wahlarbeitszeitgesetz (WAZG) ist ein Vorschlag für ein Gesetz, das es Arbeitnehmer*innen ermöglichen würde, ihre Arbeitszeit flexibler zu gestalten und damit eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erreichen. Bereits das Gutachten für den Ersten Gleichstellungsbericht hatte 2011 für die Schaffung eines solchen „Gesetzes zu Wahlarbeitszeiten“ als wichtiges gleichstellungspolitisches Instrument plädiert (Bundesregierung 2011: 155). Diese Forderung wurde vom Deutschen Juristinnenbund (DJB) aufgegriffen, der 2016 eine Konzeption für ein Wahlarbeitsgesetz vorlegte (djb – Deutscher Juristinnenund e. V. 2016; Pfarr 2015; Stelkens 2016). Auch an anderer Stelle, etwa im gewerkschaftlichen Bereich, werden zunehmend Modelle gefordert, bei denen Beschäftigte ihre Arbeitszeit individuell variieren können: So etwa beim Modell T-Zug, bei dem Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie mit Kindern, Pflegeaufgaben oder in Schichtarbeit bis zu acht freie Tagen pro Jahr anstelle von tariflichem Zusatzgeld beantragen können (IG Metall 2022).

Das Konzept des WAZG sieht vor, dass Unternehmen ab einer bestimmten Größe gesetzlich verpflichtet sind, flexible Arbeitszeitmodelle anzubieten und im Austausch mit den Mitarbeitenden Wahlarbeitszeitkonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Dabei sollen auch die Interessen der Arbeitnehmer*innen berücksichtigt werden, die nicht in der Lage sind, ihre Arbeitszeit selbst zu bestimmen. Außerdem sollen Maßnahmen zur Arbeitszeitgestaltung zur Verfügung gestellt werden, die auch für Arbeitnehmer*innen mit Familienpflichten geeignet sind. So sollen alle Arbeitnehmer*innen mitbestimmen können, wie lange sie arbeiten möchten und wann sie ihre Arbeitszeit aufnehmen und beenden wollen. Ziel ist es, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen und gleichzeitig die Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern. (djb – Deutscher Juristinnenbund e. V. 2016)

Das WAZG könnte ein wichtiges Instrument sein, um die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern und die Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer*innen zu verbessern. Positiv hervorzuheben ist, dass das WAZG auf der praktischen Ebene der betrieblichen Umsetzung ansetzt. Gleichzeitig bedeutet die Umsetzung individueller Arbeitszeitmodelle einen hohen organisatorischen Aufwand. Ferner könnte das Modell an Grenzen stoßen, wenn Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen sich nicht darüber einig werden, welche Arbeitszeitmodelle mit den betrieblichen Erfordernissen vereinbar sind. Beim zweiten Optionszeitenlabor, wurde hierüber diskutiert und vorgeschlagen, flankierend unabhängige Schlichtungsstellen einzurichten, die versuchen, angemessene Lösungen zu finden. Nicht zuletzt besteht grundsätzlich die Gefahr, dass eine Flexibilisierung der Arbeitszeit zu einer zunehmenden Entgrenzung und Verdichtung der Arbeit führt (Institut DGB-Index Gute Arbeit Mai / 2022). Dies kann zu erhöhtem Stress und einer schlechteren Work-Life-Balance führen, zum Beispiel durch mobiles Arbeiten abends nach Erledigung von Care-Arbeiten.

3. Keine gleichstellungspolitischen Selbstläufer

Die Darstellung und Diskussion der Modelle haben gezeigt, dass kein zeitpolitischer Reformvorschlag ein gleichstellungspolitischer Selbstläufer ist. Zwar sind Zeit- und Gleichstellungspolitik eng miteinander verwoben. Um die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern, braucht es dringend Ansätze, die das Mittel der Zeit nutzen, um Erwerbs- und Sorgearbeit umzuverteilen, Entgeltgleichheit zu fördern und eine bessere Absicherung für alle Menschen, unabhängig vom Geschlecht, zu erzielen. Jedoch ist davon auszugehen, dass keines der diskutierten Modelle automatisch diese Effekte erzielen würde. Stattdessen müssten sie sorgfältig ausgestaltet und von weiteren Maßnahmen flankiert werden, um unerwünschte Effekte auf die Gleichstellung von Frauen und Männern zu vermeiden und stattdessen nachweislich zu mehr Gleichstellung beizutragen. Zur Evaluation einzelner Maßnahmen oder Reformen braucht es daher eine klare gleichstellungspolitische Zielsetzung mit entsprechenden Daten und Indikatoren, die als Kenngröße genutzt werden können, um den Erfolg einer Reform beurteilen zu können.

Eine umfassende und gleichstellungsorientierte Zeitpolitik ist unerlässlich, um Gleichstellung tatsächlich zu fördern und nachhaltige, faire Arbeits- und Lebensbedingungen für die Geschlechter zu schaffen. Jede zeitpolitische Reform muss sorgfältig durchdacht und von zusätzlichen Maßnahmen begleitet werden, um sicherzustellen, dass sie allen gesellschaftlichen Gruppen (insbesondere in Bezug auf deren ökonomischen Status) zugutekommt und nicht unbeabsichtigte negative Folgen hat. Nur so wird es gelingen eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft zu gestalten.

Stand: Juli 2024
Über die Autorin

Leoni Linek studierte Volkswirtschaftslehre, Philosophie und Soziologie in York, New York, Oxford und Berlin. Seit Oktober 2022 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Wissen, Beratung und Innovation tätig. Dort ist sie unter anderem für das Thema Zeitpolitik und die fachliche Leitung des Optionszeitenlabors zuständig. Zuvor forschte und lehrte sie in der Arbeits- und Geschlechterforschung an der Technischen Universität Dortmund sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie wurde 2023 an der HU Berlin mit einer geschlechtersoziologischen Arbeit zu Freundschaft promoviert.